Unter den mehr als 300 Werken von Mel Bonis ragt die Violinsonate in fis-Moll, Op. 112, als ihr reifster Beitrag zum Sonaten-Genre hervor. Sie entstand in den letzten Lebensjahren und wurde 1923 bei Maurice Senart veröffentlicht. Das Werk zeugt von ihrer Meisterschaft in der großangelegten Kammermusik, in der sie persönliche Ausdruckskraft mit struktureller Strenge verbindet. Bonis hatte bereits zwei Sonaten geschrieben – ihre Flötensonate (1904) und Cellosonate (1905) –, bevor sie sich der Violine zuwandte. Die Violinsonate übernimmt vollständig die zyklische Technik, die von ihrem Lehrer César Franck beeinflusst ist, mit thematischen und harmonischen Verbindungen, die ihre vier Sätze miteinander verknüpfen. 1998 beschrieb Eberhard Mayer das eröffnende Moderato als einen Stil, der „rhythmische Komplexität, Chromatik und tief eindringliche, melancholische Themen miteinander verwebt und letztlich ein reines Gefühl der Melancholie ausdrückt.“
Der erste Satz etabliert diese Atmosphäre durch fließenden Lyrismus und harmonische Instabilität, geformt von rhythmischen Feinheiten zwischen Melodielinie und Begleitung. Der zweite Satz, ein Presto–Scherzo, sorgt durch Geist und Leichtigkeit für Kontrast. Er lässt sich nicht nur mit dem entsprechenden Scherzo der Flötensonate vergleichen, sondern auch mit dem abschließenden Scherzo der Suite für Flöte, Violine und Klavier.
Der dritte Satz bildet das expressive Zentrum der Sonate, ähnlich wie in Francks Violinsonate in A-Dur. Er basiert auf einem griechischen Volkslied. Der Satz erinnert an den Klang orthodoxer Gesänge und integriert modales Schreiben, das auf die Traditionen des antiken Griechenlands verweist.
Der letzte Satz entwickelt dieses Material mit gesteigerter Energie und einem erweiterten Dialog zwischen Violine und Klavier. Motivische Fragmente aus früheren Abschnitten tauchen in neuen harmonischen Kontexten wieder auf und verstärken die zyklische Konzeption des Werkes. Zusammengenommen verleihen diese Elemente dem Satz Kohärenz und Schwung, der zu einem entschiedenen Abschluss führt.
Die Sonate wurde 1919 im Salle Gaveau in Paris unter der Schirmherrschaft der Société Musicale Indépendante uraufgeführt. Zeitgenössische Reaktionen waren positiv. Ein Kritiker des Courrier des Musiciens hob die Kontraste des Werkes hervor und lobte besonders „ein Andante, sorgfältig konstruiert auf einer griechischen Melodie, das sich in einer fesselnden Entwicklung entfaltet, bevor es in ein lebendiges und kraftvolles Finale mündet.“ Dieses Zeugnis unterstreicht das Gleichgewicht von Dunkelheit und Licht, das das Werk prägt. Obwohl die Sonate im Verlauf des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit geriet, hat ihre jüngste Wiederentdeckung ihren Status als eines der bedeutendsten Kammermusikwerke von Bonis bestätigt: eine Komposition, die zwar den Einfluss Francks zeigt, zugleich aber eine persönliche Stimme behauptet – lyrisch, harmonisch kühn und tief ausdrucksstark.
Mel Bonis (1858–1937), geboren als Mélanie Hélène, war eine produktive französische Komponistin, deren Katalog mit mehr als 300 Werken Klavier-, Orgel-, Kammer-, Orchester- und Vokalmusik umfasst. 1881 nahm sie während ihres Studiums am Pariser Konservatorium den Namen „Mel Bonis“ an, ein Schritt von der Improvisation zur reifen Komposition. Ihr erstes unter diesem Namen signiertes Werk war ein Klavierstück mit dem Titel Impromptu, ma première pièce, par Mel Bonis. Die Wahl eines androgynen Pseudonyms spiegelte sowohl den Wunsch nach künstlerischer Unabhängigkeit als auch eine Strategie wider, sich in einem von Männern dominierten musikalischen Umfeld durchzusetzen. Christine Géliot, Präsidentin der Association Mel Bonis und eine Nachfahrin der Komponistin, hat betont, dass moderne Bezugnahmen diese gewählte berufliche Identität respektieren müssen.
Mel Bonis war Schülerin von César Franck und Ernest Guiraud, deren Lehre ihr harmonisches und strukturelles Denken prägte, während sie gleichzeitig ihre eigene kompositorische Stim-me entwickelte, die durch Lyrismus, rhythmische Feinheit und harmonische Farbigkeit ge-kennzeichnet ist.
Christine Géliots Biografie Mel Bonis, femme et “compositeur” (L’Harmattan, 2010; deutsche Übersetzung Mel Bonis, Frau und Komponistin, Furore, 2015; englische Übersetzung Mel Bonis, Woman and Composer, Furore, 2025) bietet ein umfassenderes Bild ihres beruflichen und privaten Lebens, einschließlich ihrer Beziehungen, beruflichen Herausforderungen und Bemühungen, ihr Werk international zu fördern. Sie stellt Mel Bonis als eine angesehene und international anerkannte Komponistin dar, deren Musik technische Meisterschaft, expressive Tiefe und bleibende Bedeutung verkörpert.